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You're never too young to be a dirty old fan

Die vierte Jahreszeit


Für publik, die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft ver.di, habe ich Paul Austers „Winterjournal” rezensiert. Für alle, die (noch) nicht Mitglied sind, hier meine Kritik:

Die vierte Jahreszeit

Wenn einem das Aufstehen schwerer fällt und die Zipperlein zunehmen, wenn es plötzlich im Magen zwickt oder man sich etwas schwach auf den Beinen fühlt, wenn die Haare ergrauen, die Krähenfüße mit den Falten im Mundwinkel wetteifern und der Bauch auch schon mal besser ausgesehen hat, kommt man nicht umhin, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Dann ist die vierte Jahreszeit angebrochen und manch einer blickt zurück, zieht Bilanz und denkt an die Höhe- und die Tiefpunkte seines Lebens.

„Winterjournal“ hat der New Yorker Schriftsteller Paul Auster seine autobiografische Bestandsaufnahme genannt, in der er seinen Körper betrachtet und sich anhand seiner Narben daran erinnert, wie ihm ein dreijähriger Nachbarsjunge einen Spielzeugrechen auf den Kopf geschlagen, er sich an einem Nagel das halbe Gesicht aufgerissen, jemand ihn beim Baseball aus dem Weg gerammt hat oder er fast seine Familie umgebracht hätte, als er beim Abbiegen mit seinem Auto mal die Geschwindigkeit eines entgegenkommenden Fahrzeugs unterschätzt hat.

Es sind zumeist sehr persönliche, ja, intime Erinnerungen, die Auster hier preisgibt, wenn er seine 21 ständigen Wohnsitze beschreibt oder Familiengeheimnisse lüftet. Manches davon hat er bereits in seinen Romanen verarbeitet, jedes Buch war für ihn ein neues Land auf dem Kontinent seiner Einbildungskraft. Im „Winterjournal“ erinnert er sich nun aber vor allem an das Beiläufige im Leben, die kleinen Begebenheiten und scheinbaren Nebensächlichkeiten, an das, um mit John Lennon zu sprechen, was passiert ist, während man andere Dinge im Kopf hatte — das Leben an sich. Und manchmal fragt man sich, ob man das wirklich alles wissen will, zumal hier der Schriftsteller Paul Auster den Menschen Paul Auster daran erinnert, was der alles erlebt und erlitten hat, und stellvertretend dessen Leben reflektiert: „Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben.“

Für erklärte Auster-Fans ist das „Winterjournal“ zweifellos ein schöner Ersatz für eine Autobiografie, auch wenn sein Erzählstil auf Dauer etwas gestelzt klingt. Für alle anderen Leser ist es hingegen eine Aufforderung, es ihm gleich zu tun und die vierte Jahreszeit zur Inventur zu nutzen. Denn wie sagte schon Joubert, der von Auster zitierte siebte Großmeister des Malteserordens: „Man muss liebenswert sterben (wenn man kann).“

 

 

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