Tsunami der Nichtigkeiten
Zu seinem Seminar über „Presse in der Weimarer Republik” reiste er Mitte der Siebzigerjahre im Porsche an. Fritz J. Raddatz, der ehemalige Leiter des Rowohlt-Verlags, war damals Honorarprofessor an der Technischen Universität Hannover, hauptberuflich aber Feuilletonchef der „Zeit”, und wurde nicht zuletzt wegen seines dandyhaften Aussehens — weißer Anzug, elegante Schuhe und stets braungebrannt — von vielen Studenten scheel angesehen. Gleichwohl weckte er mit dem Seminar mein Interesse an John Heartfield und der „Arbeiter Illustrierte Zeitung”, die mir vorbildhaft für die Gegenöffentlichkeit und Alternativpresse erschienen, die damals gerade im Entstehen begriffen waren. „I ain’t gonna work on Maggies Farm no more”, war mein Teil des Referats überschrieben, das ich u.a. mit drei Mitgliedern der wenig später gegründeten Punk-Band Hans-à-Plast verfasste.
Weil er sich in der Eile der Produktion einen ziemlichen Schnitzer geleistet und Goethes Frankfurt einen Bahnhof hinzugedichtet hatte, bevor die Eisenbahn überhaupt erfunden war, musste Raddatz später seinen Schreibtisch bei der „Zeit” räumen, woraufhin er jahrelang mit Kübeln voller Häme überschüttet wurde. In seiner vor ein paar Jahren erschienenen, unbedingt lesenswerten Autobiografie „Der Unruhestifter” nahm er dazu ausführlich Stellung und sparte nicht mit Kritik an „der Gräfin”, dem kulturlosen „Zeit”-Herausgeber Helmut Schmidt, dem mit seiner zweitklassigen Kunstsammlung protzenden Henri Nannen oder dem, wie wir heute wissen, wiederholt wegen Steuerhinterziehung verurteilten Theo Sommer. Schonungsloser, aber auch köstlicher wurden die nie demontiert.
Seine Tagebücher aus den Jahren 1982 – 2001 wurden vor ein paar Jahren von der FAZ zurecht als Sittengemälde der Bundesrepublik gefeiert und waren ein literarisches Ereignis. Nun erscheint Teil 2 der Tagebücher, die bis 2012 reichen, und für „Die Welt” schreibt Raddatz schon seit einiger Zeit die Kolumne „Der Nörgler”, in deren heutiger Ausgabe er erfrischend deutlich gegen den „Tsunami der Nichtigkeiten” polemisiert, der Tag für Tag „Wichtigkeiten” wie die Neuauflage von Gerhard Schoenberners Klassiker der Antinazi-Literatur „Der gelbe Stern” verschlinge.
Auszug: „Woche für Woche wird man belästigt mit der Neuigkeit, dass ein Filmregisseur keinen Film dreht, ein Theaterregisseur kein Stück inszeniert, dass ,die Sprecherin ihres Büros’ zu verkünden weiß, ein Model habe sich von ihrem Partner getrennt oder Motörhead (was ist das?) die Europa-Tournee abgesagt; noch selbigen Tags erfährt eine erschütterte Welt Negatives über eine Band namens Knorkator, es folgen reich bebilderte Seiten mit Reportagen von so etwas wie Seifenkistenrennen, wie Kinder sie lieben, die ein offenbar ebenfalls minderjähriger Sänger (?) namens Bieber in Los Angeles veranstaltet hat — allerdings mit richtigen Autos; das unartige singende Kind wurde verhaftet … Dass man im Buckingham Palace Sorgen wegen der zu hohen Heizungsrechnung hat; dass der Motorrollerfahrer aus dem Elysée-Palast Sorgen wegen der Liebe hat: das sind gewiss erschütternde Nachrichten — und sogar ich muss wohl akzeptieren, dass sie einem ins Ohr trompetet werden. Nicht akzeptiere ich indes die Schmählichkeit, mit der man die Ohren mal wieder verschließt, sich blind und taub macht gegen Gerhard Schoenberners so eindringlichen Appell.”
Hm, und ich habe nie eine Vorlesung von ihm genhoert? Wie bizarr, wie bizarr.